"Ein Film aus Kuba: Großaufnahmen - müder, ausdrucksloser, fast schon jenseits von Erschöpfung und Überdruß. Erst mit den ersten Klavierklängen erkennt man, daß es Radfahrer sind. Ein geheimnisvolles Bild verwandelt sich in ein Stück kubanischer Wirklichkeit, denn das Fahrrad visualisiert in besonderer Weise den kubanischen Alltag, der von Treibstoff- und Devisenmangel geprägt ist. MADAGASCAR von Fernando Pérez (1994) handelt von Generationskonflikten, von einer Mutter-Tochter-Beziehung und vom Wunsch einer Heranwachsenden, sich aus der Insel-Realität Kubas hinaus auf eine bessere Insel zu träumen.
MADAGASCAR ist Teil einer Trilogie, in der sich drei sehr unterschiedliche Regisseure mit der kubanischen Wirklichkeit auseinandersetzen; die Trilogie wurde 1995 mit MELODRAMA von Rolando Díaz fortgesetzt. Es geht um Esperanza, die Frau eines Funktionärs, die sich nach fünf Jahren Ehe ein Kind wünscht, da sie glaubt, nur noch ein Jahr zu leben. In Kuba wird er Film fast als 'Dissidentenfilm' gehandelt. Als der Regisseur bei einem privaten Besuch in Miami eine Videokopie des Films in einer halböffentlichen Vorführung zeigte, kommentierte dies die überwiegend antikommunistische Presse der Exilkubaner, und das staatliche kubanische Filminstitut (ICAIC) protestierte heftig. Was auch ein Beispiel ist für die komplexe Struktur der Beziehungen zwischen dem offiziellen Kuba und der kubanischen Gemeinschaft im US-amerikanischen Miami.
ALICIA EN EL PUEBLO DE MARAVILLAS (ALICIA IM WUNDERLAND) von Daniel Díaz Torres schockierte 1990 nicht nur die kubanische Filmwelt. Die bitter-komische Allegorie auf ideologische Tristesse wurde von den kubanischen Behörden verboten. Die Protagonistin Alicia, eine Theaterdozentin, beschließt, ihren 'sozialen Dienst' (die beiden Jahre nach dem Studienabschluß) in dem abgelegenen Dorf Maravillas de Noveras abzuleisten. Doch sie merkt bald, daß ihr freiwilliger Einsatz die Ausnahme ist, da die meisten dort zwangsweise in einer Art Strafkolonie leben. Trotz Verbots - 'ein Betriebsunfall', so Mitarbeiter des Kulturministeriums heute - lief der Film dann aber noch in einigen kubanischen Kinos.
1995 drehte Daniel Díaz Torres QUIEREME Y VERÁS (LIEBE MICH UND DU WIRST SEHEN), die burleske Geschichte dreier ehemaliger Bankräuber, deren großer Coup durch den Sieg der Revolution hinfällig wird. Fast 40 Jahre später schlagen sich die drei zähen Alten mit List, grimmiger Improvisation und Träumen durch die Tücken des realsozialistischen Alltags. Daniel Díaz Torres sieht eine gewisse Liberalisierung in der kubanischen Kulturpolitik aber: »Die alten, die dogmatischen Kulturfunktionäre sind ja nicht verschwunden, sie haben sich zurückgezogen, daher gibt es keine so deutlichen Zensurfälle mehr, wie noch mit ALICIA.« Die Probleme des kubanischen Films seien im Moment überwiegend wirtschaftlicher Natur. Ohne Co-Produzenten könne der kubanische Film kaum überleben. Für sein nächstes Projekt sucht Díaz Torres Partner in Deutschland, eine bizarre Kriminalkomödie über einen Polizisten, der nach Havanna kommt, weil er sich in der Provinz langweilt. Sein erster Fall ist der Tod eines deutschen Touristen, der vom 20. Stockwerk stürzte. Bei der Suche gerät er immer tiefer in den Strudel der Vergangenheit. Die neue Linie kubanischer Filmpolitik ist eine Art kreatives Joint venture, der Erfolg von ERDBEER UND SCHOKOLADE war erst der Anfang.
Daniel Díaz Torres steht innerhalb des kubanischen Films in der Linie burlesk-sarkastischer Komödien, die humorvoll, stellenweise grotesk den Alltag aufs Korn nehmen. Kubanische Filme haben die Realität des Landes schon immer kritisch, teilweise mit bösartigen Biß begleitet. In diesem Sinn ist GUANTANAMERA ebensowenig wie ERDBEER UND SCHOKOLADE ein Dissidentenfilm. Tomás Gutiérrez Alea schuf bereits 1966 mit MUERTE DE UN BURÓCRATA (TOD EINES BÜROKRATEN) eine weitaus schärfere Karikatur der kubanischen Verwaltung, in der es auch um eine Leiche und um skurrile Friedhofsfunktionäre im realsozialistischen Alltags ging.
Hinzu kommen satirische Milieuschilderungen wie von Gutiérrez Aleas Co-Regisseur Juan Carlos Tabió in PLAF, SE PERMUTA (WOHNUNGSTAUSCH) oder auch EL ELEFANTE Y LA BICICLETA (DER ELEFANT UND DAS FAHRRAD), ein sarkastisches Märchen, das auf unterschiedlichen Zeitebenen die Geschichte einer kleinen Insel - also die Geschichte Kubas - und lateinamerikanischer Befreiungsbewegungen erzählt.
Generationskonflikt?
»Das Charakteristische des kubanischen Films war immer das kritische, das reflektierende Verhältnis zur Realität«, erklärt Juan Carlos Tabío. Auf die Frage nach dem Verhältnis unterschiedlicher Generationen weicht er aus: »Ich glaube nicht, daß es so etwas wie einen Generationskonflikt gibt. Ich könnte sagen, daß Tomás Gutiérrez Alea einer der jugendlichsten Regisseure Kubas ist, ich bin wesentlich jünger, und wir haben gut zusammengearbeitet.« 1995 setzte man in Kuba auf junge Filmemacher. Von den fünf Spielfilmen, die das staatliche Filminstitut ICAIC produzierte, waren zwei Erstlingswerke: PON TU PENSAMIENTO EN MI (WIDME DEINE GEDANKEN MIR) vor Arturo Sotto Díaz wurde bereits im Vorfeld als postmodernes Meisterwerk gefeiert. Doch die Inszenierung des Absolventen der 'Schule der Drei Welten' in San Antonio de los Baños enttäuschte. Die Mischung aus Film-im-Film-Elementen, verfremdeten Motiven aus Kostümfilmen und der Geschichte eines Wanderschauspielers, der für Jesus Christus gehalten wird, bleibt kalt und akademisch, gewollt inhaltsschwer.
Auf leicht selbstverliebte Weise schildert LA OLA (DIE WELLE) von Enrique Alvarez die Perspektiven von Jugendlichen in Havanna. Ein ruhiger Film, der sich stark an europäische Vorbilder anlehnt. Alvarez sieht sich in der Tradition einer anderen Tendenz des kubanischen Films jenseits grotesker Komödien; Vorbild für solche eher an der Psychologie der Protagonisten orientierte Filme ist Tomás Gutiérrez Aleas MEMORIAS DEL SUBDESAROLLO (ERINNERUNG AN DIE UNTERENTWICKLUNG, 1968), der das revolutionäre Kuba über die subjektive Perspektive eines kultivierten Großbürgers verfremdet. Auch MADAGASCAR und MELODRAMA fallen in diese Linie.
Die Möglichkeiten für junge Filmemacher in Kuba sind begrenzt. die internationale Filmschule in San Antonio oder die Filmklasse der staatlichen Kunstakademie ISA. Manchmal, so wird erzählt, kann von größeren Produktionen Filmmaterial abgezweigt werden; Kontakte und Flexibilität bestimmen in Kuba alles. Doch der Einstieg in größere Produktionen ist nur über die staatliche Filmindustrie möglich. Octavio Cortazar, Regisseur bekannter Dokumentarfilme, sieht ebenfalls keinen Generationskonflikt: »Die intelligenten Filmemacher versuchen im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten, die wir haben, immer wieder die Jüngeren zu integrieren. Es gibt allerdings im Moment auch kaum eine große Filmproduktion, vielleicht gibt es diese Probleme, wenn wir wieder zu einer normalen Produktionsstruktur zurückkehren. Im kubanischen Film haben wir kein Generationsproblem, sondern ein Produktionsproblem, weil uns die Mittel fehlen.«
Dienstleistung, Produktion, Co-Produktion
Der kubanische Film ist im ICAIC (Instituto Cubano de Arte y de Cinematográfica), dem staatlichen kubanischen Filminstitut, organisiert. An seiner Spitze steht seit Jahrzehnten Alfredo Guevara, einer der Weggefährten der ersten Stunde Fidel Castros. Auch er versichert, daß Co-Produktionen, die kubanische Filmwirtschaft wiederbelebt haben. Das ICAIC könne sich mittlerweile selbst finanzieren, produzieren und stelle Dienstleistungen zur Verfügung; die technische Ausstattung werde ausgeweitet. 22 Prozent der Einnahmen würden als Reingewinn an den kubanischen Staat abgeführt. Die kubanische Filmindustrie sei dabei, neue Wege zu finden, um zu überleben. So etwa als Dienstleistungsunternehmen für ausländische Produktionen: »Wenn ein deutscher Filmemacher eine halbe Million Dollars für eine Geschichte hat, die im afrikanischen Dschungel spielt, dann ist es billiger für ihn, gleich nach Kuba zu kommen«, sagt Ocatvio Cortazar. »Wir haben den Dschungel, schwarze Mitbürger, 300 Tage Sonnenschein und eine große Anzahl von Filmtechnikern, sehr gut ausgebildete Spezialisten. Das Geld, das wir mit solchen Produktionen verdienen, stecken wir in die nationale Produktion. Wenn wir 350.000 Dollar verdiene, stecken wir 300.000 in unsere Filmprojekte. So können wir zumindest drei bis vier Spielfilme im Jahr realisieren.«
Dienstleistungen und Co-Produktionen haben den kubanischen Spielfilm über die schwerste Wirtschaftskrise Kubas hinweggerettet. Trauriger sieht es beim Dokumentarfilm aus. Das ICAIC produzierte früher jährlich zwischen 35 und 50 Dokumentarfilme, außer dem entstanden jährliche 52 Wochenschauen, die ICAI LATINOAMERICANO, unter der Regie von Santiago Alvarez, das alles auf 35mm-Filmmaterial. Heute widmen jüngere Regisseure Alvarez, dem Meister des militanten Dokumentarfilms, selbst Dokumentationen, auf Video, denn für mehr reicht das Geld nicht.
Dabei sind 1995 einige äußerst spannende Filme entstanden, Videodokumentationen von Filmstudenten, die den kubanischen Alltag auf ungewohnte Weise reflektieren und Tabus der kubanischen Gesellschaft berühren. Ein Beispiel dafür ist die zehnminütige Dokumentation PELEA DE GALLOS (HAHNENKÄMPFE) von Alicia Sherson über einen verbotenen Volkssport. Eine Brücke wollen acht Filmemacher mit ihrer Dokumentation DEL OTRO LADO DEL CRISTAL (VON DER ANDEREN SEITE DES GLASES) schlagen: eine schwierige Annäherung an das kubanische Exil in Miami.
Was 1995 auf teurem Filmmaterial gedreht wurde, ist dagegen eher mittelmäßig. Der preisgekrönt Film CUERDAS DE MI CIUDAD (SEITEN MEINER STADT) wirkt wie eine zu trocken geratene Tourismuswerbung, und José Patróns Filme über die kubanischen Filmfestivals der vergangenen Jahre haben den Geruch pathetischer Propaganda. In einem allerdings ist das kubanische Filminstitut unschlagbar: in den brillianten kurzen Cartoons, den FILMINUTO, die in Kuba als Vorfilm laufen."
Wolfgang Martin Hamdorf in: Filmdienst Nr. 10 1996, S. 37-39